Der Wind zerzauste ihr dunkles Haar, das sie zu einem strengenden Zopf aus dem Gesicht gebunden hatte, damit es sie nicht störte. Sie genoss die Frische, die die einzelnen Böen mit sich brachten zutiefst. Endlich wieder richtig durchatmen können. Nach den endlosen Tagen unter Deck brachte er die Erholung mit sich, die abgestandene Luft niemals hervorrufen konnte. Vor allem nicht in einer Kajüte, in der es stank, als habe man dort junge Hunde ertränkt.
Voller Neugier wandte sich Leylin der Bucht zu, welche die "Sturmrufer" ansteuerte. Das also war die rote Insel. Irgendwie wirkte sie auf den ersten Blick nicht viel anders als andere Inseln. Aber warum sollte sie das auch?
Neben ihr erklang ein trockenes Würgen, das sie angewidert den Kopf drehen ließ. Ein untersetzter kahlköpfiger Mann schien sein Frühstück nicht bei sich behalten zu können. Leylin kannte ihn nicht, meinte sich jedoch daran erinnern zu können, dass er zu den Händlern gehörte, die in Ehrenfels an Bord gegangen waren. Sie beachtete ihn nicht weiter und beugte sich vor. Die See lag einigermaßen ruhig unter ihr. Trotz des strahlenden Sonnenscheins tanzten weiße Schaumkronen auf den Wellen und begleiteten ihre Fahrt. Die feine Gischt, die ihr ins Gesicht spritzte, ließ sie innerlich jubilieren.
Als sie sich wieder aufrichtete, war der Hafen beinahe in Reichweite.
Er wirkte auf sie klein und friedlich. Ganz anders als in Ehrenfels. Dort hatte sie Acht geben müssen, niemandem über die Füße zu stolpern, so geschäftig waren alle gewesen. Klein und unbedeutend hatte sie sich in diesem schieren Wald aus Masten gefühlt. Hier lagen nicht einmal die Hälfte der Schiffe vor Anker. Und dennoch war er ein willkommener Anblick.
Leylin wartete, bis das Anlegemanöver beendet war, ehe sie als eine der ersten von Bord stürmte. Alles, was sie besaß, trug sie am Leib, schwere Koffer benötigte sie nicht. Als ihre Füße sicheren Boden unter den Füßen hatten, verspürte sie eine leichte Unruhe und hielt mitten in der Bewegung inne. Was war, wenn sie abgewiesen wurde? Wenn man ihr nicht einmal Gehör schenkte? Sie musste sich eingestehen, dass sie viel zu wenig über dieses Haus Nirakis in Erfahrung hatte bringen können. Am Anfang waren es Gesprächsfetzen gewesen, die sie hatten aufhorchen lassen und die diesen Plan, zu ihnen Kontakt aufnehmen zu wollen, in ihr reifen ließen. Sie wusste nicht einmal mehr, wer dieses Gespräch geführt hatte. Es war bestimmt ein Jahr vergangen, in welchem sie Nachforschungen betrieben hatte. Viel hatte sie nicht herausgefunden, aber zumindest so viel, dass ihre Entscheidung hierher zu reisen, unumstößlich gewesen war. Nun stand sie hier wie bestellt und nicht abgeholt.
Sie wusste, dass sie zum Roten Tempel musste, aber mehr auch nicht.
Das Problem war, hier herumstehen brachte sie auch nicht weiter. Aufmerksam sah sie sich um, ehe sie entschlossen auf den erstbesten Hafenarbeiter zuging, der ihr in die Quere kam.
"He, Ihr da! Hier soll es ein Haus Nirakis geben. Wie komme ich dahin?"